“Ist es verantwortungslos ein Kind vegan zu ernähren?” - Im Interview mit Carolin Wiedmann

Diese Frage habe ich kürzlich der Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin Carolin Wiedmann gestellt.

Was die Ärztin darauf geantwortet hat und was sie zur aktuellen Studienlage, kritischen Nährstoffen und veganer Ernährung von Kindern und Jugendlichen allgemein zu sagen hat, könnt ihr in meinem spannenden Interview mit ihr nachlesen.

 


OUAC: Ist es verantwortungslos ein Kind vegan zu ernähren, Frau Wiedmann?

Carolin Wiedmann: Eine vegane Ernährung im Kindesalter wird von den Ernährungsfachgesellschaften nicht empfohlen. Das liegt nicht daran, dass diese grundsätzlich nicht möglich ist, sondern vor allem daran, dass es mit einer rein pflanzlichen Ernährung schwieriger ist, den hohen Nährstoffbedarf von Kindern zu decken.

Hierfür ist ein umfassendes Ernährungswissen nötig und die Bereitschaft, die Ernährung durch Nahrungsergänzungsmittel, vor allem Vitamin B12, zu ergänzen.

Die Fachgesellschaften empfehlen Familien, die sich vegan ernähren, eine Ernährungsberatung in Anspruch zu nehmen sowie ggf. eine ärztliche Überprüfung der Nährstoffversorgung. All dies bedeutet mehr Aufwand und „Commitment“ als bei einer mischköstlichen Ernährung.

“Ich erlebe in der Praxis aber, dass vegane Eltern sich ihrer Verantwortung in aller Regel überaus bewusst sind, sich überdurchschnittlich viel zum Thema Ernährung informieren und keinen Aufwand scheuen, die Ernährung ihrer Kinder bestmöglich zu gestalten. Das ist alles andere als verantwortungslos.”

 

OUAC: Wie ist es dazu gekommen, dass du Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin mit besonderem Schwerpunkt auf pflanzlich basierte Ernährung geworden bist?

Carolin Wiedmann: Kinderheilkunde ist die beste Fachrichtung überhaupt, da gab es also wenig zu überlegen (wobei noch Rechtsmedizin hoch im Kurs stand bei mir; bin aber froh, mich dann doch letzten Endes für die Kinderheilkunde entscheiden zu haben).

Für Ernährung interessiere ich mich schon seit meiner Jugend. Ich bin mit 10 Jahren Vegetarierin geworden und habe mich viel mit Nährstoffversorgung, Kochen und vor allem Essen beschäftigt.

Als ich Ende 20 war, wurde meine zuvor vegetarische Schwester zur Veganerin. Ich war erst hochbesorgt und wollte ihr die vegane Ernährung ausreden, weil ich diese für ungesund hielt. Da meine Schwester aber natürlich nicht auf ihre große Schwester hörte, habe ich angefangen, mich ausführlich damit zu beschäftigen, wie sie sich gesund ernähren und ihren Nährstoffbedarf decken kann.

Wenige Monate später habe ich mich dann auch für eine vegane Ernährung entschieden. Das war ein Jahr, bevor ich meine Facharztausbildung begonnen habe.

“Ich habe immer wieder von Eltern gehört, die ihre Kinder gerne vegetarisch oder vegan ernähren wollten, aber von ihren Kinderärzt*innen stark ablehnende Reaktionen erfahren haben und sich mit Ernährungsfragen allein gelassen fühlten.”

Meine Kolleg*innen haben immer sehr interessiert mein mitgebrachtes Essen begutachtet und viele Fragen gestellt. Natürlich auch, ob eine vegane Ernährung denn auch für Kinder möglich sei.

Gleichzeitig habe ich immer wieder von Eltern gehört, die ihre Kinder gerne vegetarisch oder vegan ernähren wollten, aber von ihren Kinderärzt*innen stark ablehnende Reaktionen erfahren haben und sich mit Ernährungsfragen allein gelassen fühlten.

Nach meiner Facharztprüfung 2017 habe ich 2019 die Zusatzbezeichnung „pädiatrische Ernährungsmedizin“ gemacht und danach angefangen, Ernährungssprechstunden mit dem Schwerpunkt pflanzliche Ernährung in Schwangerschaft, Stillzeit und im Kindesalter anzubieten, um Eltern die Unterstützung zu bieten, die ihnen beim eigenen Kinderarzt/der eigenen Kinderärztin oft fehlt.

 

OUAC: Wo und wie können sich vegane Eltern am besten auf die pflanzliche Ernährung ihrer Kinder vorbereiten und informieren (z.B. über kritische Nährstoffe, ausgewogene Planung von Mahlzeiten)?

Carolin Wiedmann: Als Grundlage würde ich ein gutes Buch empfehlen. Zum Beispiel Vegane Kinderernährung von Prof. Keller und Edith Gätjen. Oder aus dem englischsprachigen Raum Nourish von Brenda Davis & Reshma Sha oder das Buch The plantbased baby and toddler. Oder das Buch Plantbased von Anfang an von Anastasia Pyanova, Ozlem Erbas Soydaner und mir, das 2024 veröffentlicht wird!

Zudem wird von den Fachgesellschaften bei einer veganen Ernährung in den kritischen Lebensphasen (Schwangerschaft, Stillzeit, Kindesalter) eine Ernährungsberatung empfohlen, was ich auch empfehlen würde.

 

Im Mai 2024 erschien Carolin Wiedmanns Buch “Plantbased von Anfang an”.

Das Autorinnen-Trio aus Kinderärztin, Biologin und Biochemikerin liefert wissenschaftlich fundierte Fakten, basierend auf aktuellen Studien und versucht werdende Eltern und junge Familien, die sich eine pflanzliche(-re) Ernährung wünschen ganz undogmatisch & seriös zu unterstützen!

 

OUAC: Gibt es besondere Phasen oder Altersabschnitte, wo man einmal mehr auf die ausreichende Nährstoffversorgung von Kindern und Jugendlichen achten sollte?

Carolin Wiedmann: Vor allem die ersten 2 Lebensjahre sind besonders kritisch, da hier aufgrund des starken Wachstums und der Gehirnentwicklung ein hoher Nährstoffbedarf besteht.

Zudem wissen wir, dass in den ersten 1000 Tage im Leben eines Kindes (von dem Zeitpunkt der Zeugung bis zum 2. Geburtstag) der Grundstein für das ganze weitere Leben gelegt wird: Die Qualität der Ernährung in dieser Zeit hat einen großen Einfluss auf die lebenslange Gesundheit.

“Eine gut geplante pflanzenbasierte Ernährung von klein auf kann präventiv hinsichtlich ernährungs-mitbedingter Erkrankungen wie Herzkreislauf-Erkrankungen, Typ 2 Diabetes u.a. sein. Auf der anderen Seite können Nährstoffdefizite wie ein Eisen-, Vitamin B12- oder Jodmangel sich ungünstig auf die körperliche und geistige Entwicklung auswirken.”

In der Pubertät kommt es dann nochmal zu einem starken Wachstumsschub mit erhöhtem Nährstoffbedarf.

Unter anderem ist es in dieser Zeit besonders wichtig, die Deckung des hohen Calciumbedarfs zu priorisieren, um die Knochengesundheit nicht zu gefährden.

Mädchen, bei denen bereits die Periodenblutung eingesetzt hat, haben aufgrund des Blutverlustes einen erhöhten Eisenbedarf.

 

OUAC: Sind vegane Kinder tatsächlich kleiner?

Carolin Wiedmann: In mehreren Studien waren vegane Kinder im Schnitt etwas kleiner als mischköstlich ernährte Kinder, ihre Größe befand sich aber im Normalbereich. Über die Gründe kann spekuliert werden: Möglicherweise spielt das Wachstumshormon IgF1, welches in hohen Konzentrationen v.a. in Kuhmilch vorliegen kann, eine Rolle.

Für das Längenwachstum ist u.a. hochwertiges Protein und vor allem die essenzielle Aminosäure Lysin (insbesondere in Hülsenfrüchten inkl. Sojaprodukten) wichtig sowie Eisen, Zink und Jod.

Da all diese Nährstoffe als sog. kritische Nährstoffe bei einer veganen Ernährung gelten, sollte auf eine gute Versorgung bei einer pflanzlichen Ernährung im Kindesalter geachtet werden.

 

OUAC: Wann spricht man überhaupt von einer Unterversorgung?

Carolin Wiedmann: Eine Nährstoff-Unterversorung liegt vor, wenn der Referenzwert für die Nährstoffzufuhr nicht erreicht wird. Der Referenzwert ist eine theoretisch abgeleitete Nährstoffmenge, die bei fast allen gesunden Menschen eine ausreichende Zufuhr gewährleistet, d.h., alle lebenswichtigen Stoffwechselfunktionen sowie körperlichen und psychischen Funktionen sicherstellt und nährstoffspezifische Mängel vermeidet.

Ein Nährstoffmangel besteht, wenn der Nährstoffbedarf nicht gedeckt wird.

Der Nährstoffbedarf ist individuell verschieden und von vielen Faktoren abhängig, z.B. Alter, Geschlecht, Lebenssituation und Lebensweise. In bestimmten Situationen, z.B. bei chronischen Erkrankungen, bei alten Menschen sowie bei Kindern, Schwangeren und Stillenden ist der Nährstoffbedarf erhöht.

Nicht jede Nährstoff-Unterversorgung muss automatisch zu einem Nährstoffmangel mit entsprechenden Mangelsymptomen bzw. Mangelkrankheiten führen, da, wie gesagt, der Nährstoffbedarf sich individuell unterscheidet.

 

OUAC: Ab welchem Alter und wie regelmäßig sollte man ein Blutbild bei vegan ernährten Kindern machen lassen? Welche Blutwerte sollte man dabei überprüfen lassen?

Carolin Wiedmann: Die Fachgesellschaften empfehlen bei einer veganen Ernährung eine ärztliche Überprüfung der Nährstoffversorgung.

Welche Parameter mit welcher Häufigkeit überprüft werden sollen, wird nicht konkretisiert. Es ist auch schwierig, hier eine pauschale Empfehlung zu geben, da dies von Faktoren wie Essverhalten/Speiseplangestaltung und Gesundheitszustand abhängt.

Aber im 2. Lebensjahr zumindest den B12-Status sowie evtl. den Eisenstatus überprüfen zu lassen, ist sicher nicht verkehrt.

OUAC: Was können Eltern bei Kindern die wir als sogenannte „schlechte Esser“ bezeichnen tun?

Carolin Wiedmann: Zunächst sollten sich Eltern fragen, warum sie ihr Kind als „schlechten Esser“ einschätzen. Weil andere Kinder mehr bzw. anders essen? Weil nicht die Mengen gegessen werden, die die Eltern als notwendig empfinden?

Es gibt sehr viele verschiedene Szenarien, die dazu führen, dass Eltern ihre Kinder als „schlechte Esser“ bezeichnen.

Grundsätzlich gilt: Wenn ein Kind sehr geringe Mengen bzw. sehr selektiv isst, nicht normal wächst und gedeiht (das fällt spätestens bei den U-Untersuchungen beim Kinderarzt auf) oder wenn die gemeinsamen Mahlzeiten über einen längeren Zeitraum als sehr belastend (für Eltern und/oder Kind) erlebt werden, sollte professionelle Hilfe in Anspruch genommen werden.

Bei Kindern, die sich normal entwickeln bzgl. Gewicht und Längenwachstum, die aber ein „schwieriges“ Essverhalten haben, ist das Wichtigste: Druck rausnehmen.

Oft stehen die Kinder schon seit Monaten oder gar Jahren „unter Beobachtung“: Jeder Bissen wird genauestens beobachtet und evtl. kommentiert. Es werden Belohnungen in Aussicht gestellt für den gegessenen Brokkoli („dann kriegst du auch ein Eis“) und Strafen bei Nicht-Essen angedroht („dann gibt es heute Abend keine Gute-Nacht-Geschichte).

Das Problem ist: Durch solche Maßnahmen wird ein Kind nicht lernen, sich ausgewogen zu ernähren. Ganz im Gegenteil. Essen wird zunehmend als stressig und unangenehm wahrgenommen.

Druck erzeugt Gegendruck und Kinder werden keine leidenschaftlichen Esser, indem man versucht, sie „zu ihrem Glück zu zwingen“.

“Die Eltern sind verantwortlich für das ‘was, wann und wo’. Das Kind ist verantwortlich dafür zu entscheiden, ‘ob und wieviel’ es von den angebotenen Lebensmitteln essen möchte.”

Daher gilt als vielleicht wichtigster Grundsatz beim Essen: Die Eltern sind verantwortlich für das „was, wann und wo“: sie entscheiden also, welche Lebensmittel auf den Tisch kommen, und sie sind für die Mahlzeiten-Struktur verantwortlich, also wo und wann gegessen wird.

Das Kind ist verantwortlich dafür zu entscheiden, „ob und wieviel“ es von den angebotenen Lebensmitteln essen möchte. Dies ist auch bekannt als Prinzip der geteilten Verantwortung, etabliert von Ellyn Satter.

 

OUAC: Welche Rolle spielen Supplemente in der veganen Ernährung von Kindern?

Carolin Wiedmann: Ohne ein Vitamin B12 Supplement (bzw. B12-angereicherte Produkte, welche ich aber nicht als alleinige B12-Quelle empfehlen würde) ist eine bedarfsdeckende vegane Ernährung nicht möglich.

“Wer sich also für eine vegane Ernährung entscheidet, muss sich im Klaren darüber sein, dass mindestens dieser Nährstoff supplementiert werden muss.”

Darüber hinaus ist die Versorgung mit der langkettigen Omega-3-Fettsäure DHA bei einer fischfreien Ernährung schwierig und gerade in Lebensphasen wie Schwangerschaft/Stillzeit/Kleinkindesalter ist aufgrund der hohen Bedeutung von DHA für die Gehirnentwicklung eine Supplementierung ratsam.

Auch die Versorgung mit Jod, Selen und Calcium kann, je nach Lebensmittelauswahl, bei einer pflanzlichen Ernährung kritisch sein und sollte ggf. durch eine Supplementierung (bzw. die Verwendung angereicherter Produkte) sichergestellt werden.

Bei manchen vegan lebenden Menschen ist auch eine Supplementierung mit Eisen oder Zink notwendig, wenn eine ausreichende Versorgung über Lebensmittel nicht sichergestellt werden kann.


OUAC: Viele vegane Eltern wünschen sich vegane bzw. zumindest vegan-freundliche Kinderärzt:innen für ihre Kinder. Fakt ist leider, dass es noch kaum versierte Fachärtz:innen wie dich gibt. Was kannst du diesen Eltern empfehlen?

Carolin Wiedmann: Auch, wenn viele Kinderärzt*innen sich gegen eine vegane Ernährung aussprechen, so sind sie doch oft bereit, vegane Familien zu begleiten. Eine ausführliche Beratung zu Ernährung und Nahrungsergänzungsmitteln kann man hier zwar kaum erwarten, aber dies können die Eltern bei Bedarf an anderer Stelle tun.

Leider gibt es vereinzelt aber auch Kinderärzt*innen, die z.B. rechtliche Schritte gegen die Eltern androhen aufgrund von „Kindswohlgefährdung“ bei veganer Ernährung. In solchen Fällen ist das Vertrauensverhältnis wohl kaum noch gegeben und dann ist es evtl. besser, den Kinderarzt/die Kinderärztin nach Möglichkeit zu wechseln.


OUAC: Hast du nützliche Tipps für den Alltag, die du gerne teilen möchtest?

Carolin Wiedmann: Auf die Gefahr hin, wie eine hängen gebliebene Platte zu klingen: Bei einer veganen Ernährung sollte auf jeden Fall eine gute Versorgung mit hochwertigem Protein priorisiert werden.

Dies gelingt primär durch den täglichen Konsum von Hülsenfrüchten wie Linsen und Bohnen inklusive Sojaprodukten wie Tofu. Es gibt unzählige Zubereitungsarten und Rezepte mit Hülsenfrüchten, wo für jeden was dabei sein sollte.

“Bei einer veganen Ernährung sollte auf jeden Fall eine gute Versorgung mit hochwertigem Protein priorisiert werden.”

Meine persönlichen Favoriten sind: Linsenpfannkuchen, Kürbis-Linsensuppe, Tofubolognese, Linsenbolognese, Chili sin carne mit schwarzen Bohnen, Kichererbsenfalafel, Hummus, Brownies mit schwarzen Bohnen, Tofu-Rührei, Crispy Tofu uvm.


ist Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin mit Zusatzbezeichnung Ernährungsmedizin (DGKJ). Nach ihrer Facharztausbildung an der Kinderklinik Neuburg/Ingolstadt war sie in der pädiatrischen Allergologie am Dr. von Haunerschen Kinderspital der LMU München sowie in einer allgemeinpädiatrischen Praxis bei München tätig. Sie selbst lebt seit ihrem 10. Lebensjahr vegetarisch und seit dem Jahr 2011 vegan. Ihr Angebot umfasst die Beratung zu einer pflanzenbasierten Ernährung für Kinder und Jugendliche, Schwangere, Stillende, oder die ganze Familie. Die Beratungen können persönlich in München oder auch als Video-Sprechstunden stattfinden.

Instagram: @plantpowerpediatrician

 

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